Die Legende vom Mitläufer ist endgültig vom Tisch - Rezension von Dr. Oliver Hirsch

Rezension des Buches „Regierungsunternehmer. Henry J. Kaiser, Friedrich Flick und die Staatskonjunkturen in den USA und Deutschland“ von Tim Schanetzky, Wallstein Verlag, Göttingen, 2015 von Dr. Oliver Hirsch.

 

Tim Schanetzky untersucht in dieser Vergleichsstudie unternehmerisches Handeln in Demokratie und Diktatur. Dazu betrachtet er Henry J. Kaiser, Werft- und Stahlmagnat, am Bau des Hoover-Staudammes beteiligt und um 1944 als möglicher Vizepräsident der Vereinigten Staaten gehandelt sowie Friedrich Flick. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Person Friedrich Flicks, vor allem, um die Weiterführung der Argumentation Schanetzky deutlich zu machen, dass Flick nicht lediglich ein Opportunist während der NS-Zeit war. Tim Schanetzky gilt nicht zuletzt seit der Publikation von „Flick: Der Konzern, die Familie, die Macht“ zusammen mit Norbert Frei, Ralf Ahrens und Jörg Osterloh als ausgewiesener Flick-Experte.

 

Bereits in der Einleitung wird nochmals geschildert, dass zwei Anläufe, Flick das Bundesverdienstkreuz zu verleihen am Widerstand von Bundespräsident Theodor Heuss gescheitert waren. Dieser habe es sein negatives Hobby genannt, Flick diese Auszeichnung zu verweigern. Dabei habe er sich nicht an seiner Vergangenheit während des Nationalsozialismus gestört, sondern er habe dessen unternehmerische Methoden missbilligt, da Flick immer wieder feindliche Übernahmen durchgeführt und staatliche Hilfen in Anspruch genommen habe (S.8). Konrad Adenauer, der es bekanntermaßen mit der NS-Vergangenheit seiner engsten Mitarbeiter nicht so genau nahm, sorgte dann aber persönlich dafür, dass Flick doch noch 1963 seine Auszeichnung bekam.

 

Flicks wirtschaftliches Handeln war bereits früh dadurch gekennzeichnet, dass er bemüht war, seine Risiken zu verstaatlichen und Gewinne zu privatisieren. Die Weimarer Republik wurde dabei als wichtige Ressource begriffen und aktiv in seine Überlegungen einbezogen. Verträge, Kredit- und Zusatzvereinbarungen wurden derart komplex formuliert, dass die Berliner Ministerialbürokratie diesen nicht mehr folgen konnten. Es halten sich bis heute Vermutungen, dass Flick Schmiergeldzahlungen an führende Politiker, wie z.B. Außenminister Gustav Stresemann geleistet haben soll, um seine wirtschaftlichen Interessen gegenüber dem Staatsapparat durchzusetzen. Unliebsamen Journalisten wurde deren Material abgekauft, um sie ruhig zu stellen, Hartmann von Richthofen (DDP), der als Lobbyist für Flick tätig war, erhielt regelmäßige Zahlungen (S.67-71). Merkwürdige Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Gelsenberg-Affäre 1932, wie z.B. eine äußerst lückenhafte Aktenführung seitens staatlicher Organe und die erfolgten Parteispenden seitens Flick bilden diesbezüglich eine wenig überraschende Kontinuität (S.76). Jahre später wurde deswegen immer noch geschlussfolgert, dass er gar kein richtiger Unternehmer, sondern lediglich ein Spekulant sei. Er sei ferner ein Meister in der Kunst, sich an öffentlichem Eigentum zu bereichern (S.121).

 

Flicks Engagement im „Freundeskreis Reichsführer SS“ zeigte, wie wichtig Flick die Nähe zur Staats- und Parteiführung während der NS-Zeit war. Jährlich spendete er nun 100 000 Reichsmark an die SS und auch Hermann Göring näherte er sich persönlich, den er mit üppigen Geburtstagsgeschenken bedachte und mit ihm auf die Jagd ging (S.91). Dies deutete bereits an, dass er eine Strategie verfolgte, die weit über Anpassung und Opportunismus hinausging. So stellt denn auch Schanetzky fest: „Zum anderen beteiligte sich Flick in ungewöhnlich starkem Maße an der „Arisierung“, die mit der Verschärfung der nationalsozialistischen Judenpolitik vom Frühsommer 1937 auf breiter Front einsetzte.“ (S.147) Seine Nutzung der vom NS-Staat erst geschaffenen Bedingungen sei über Anpassung und Opportunismus weit hinausgegangen (S.152).

 

Der Informationsfluss in seiner Berliner Firmenzentrale sei persönlich von ihm gesteuert worden, es sei alles auf ihn zugelaufen. Er sei stets über die Arbeit seiner Vertrauten im Bilde gewesen. Otto Steinbrinck habe sich sogar über seine „Schnüffelei“ beschwert (S.185). Folglich war Flick selbstverständlich ebenso bestens über die Ausbeutung seiner Sklavenarbeiterinnen und -arbeiter informiert und hat alles unterlassen, diesen bessere Lebensbedingungen zu ermöglichen. Dies belegen die folgenden Zitate: „Obwohl es sich um ein staatliches Programm handelte, verfügten die Unternehmen über große Handlungsspielräume. Bis 1943 war kein Unternehmen dazu verpflichtet, staatliche Rüstungsaufträge überhaupt anzunehmen, und auch zur Beschäftigung von Zwangsarbeitern war niemand gezwungen. (…) Erst recht hatten es die Unternehmen selbst in der Hand, wie sie ihre Zwangsarbeiter behandelten – welche Arbeit sie ihnen zuteilten, wie sie auf Misshandlungen reagierten, wie sie ihre Arbeiter unterbrachten und verpflegten.“ (S.285) Auch an anderer Stelle zitiert Schanetzky entsprechende Dokumente, aus denen eindeutig hervorgeht, dass Flick über das Ausmaß der Zwangsarbeit und die Lebensumstände der Arbeiterinnen und Arbeiter informiert war. Bernhard Weiss, ehemaliger Namensträger eines Krankenhauses im Stadtgebiet Kreuztal, war ebenso maßgeblich in die Ausbeutung der Sklavenarbeiter/innen involviert. Flick zeichnete entsprechende Berichte ab und durch seine Anordnungen wurde eine verstärkte Ausbeutung im Bereich der Zwangsarbeit offenkundig, bis hin zur Beschäftigung von Konzentrationslagerhäftlingen (S.292). Damit ist endgültig mit der Legende aufgeräumt, Flick sei zur Beschäftigung von Sklavenarbeiter/innen gezwungen worden und habe sogar von deren Beschäftigung nichts gewusst.

 

Unbestreitbar ist, dass die „Arisierungen“ und die Expansion durch die Okkupation Frankreichs maßgeblich zum Wachstum des Konzerns beigetragen haben. Laut Schanetzky wird unmissverständlich deutlich: „Eine Partizipation an der Staatskonjunktur war in der NS-Diktatur ab einem gewissen Punkt nur noch möglich, wenn man zugleich ihren politisch-rassistischen Referenzrahmen akzeptierte.“ (S.239) Dies steht in deutlichem Gegensatz zu einem passiven, erzwungenen Mitläufertum, das als Legende vor allem in Flicks Heimatstadt Kreuztal (Ernsdorf) immer noch kultiviert wird.

 

Die aktive Mittäterrolle Flicks wird bei folgendem Zitat deutlich: „Darüber hinaus sind im Falle Flicks sogar Versuche belegt, die politischen Rahmenbedingungen aktiv zu beeinflussen, staatlichen Druck also erst zu organisieren und systematisch für die eigenen Interessen zu nutzen.“ (S.295) In seiner Analyse macht Schanetzky deutlich, dass Flick sich nicht nur opportunistisch an die von NS-Staat geschaffenen Bedingungen anpasste, sondern gerade bei den „Arisierungen“ aktiv dazu beitrug, diesen Druck weiter zu verschärfen (S.311). Ein zentrales Beispiel dafür war der im Auftrag von Flick von Hugo Dietrich formulierte Entwurf der Verordnung über den „Einsatz des jüdischen Vermögens“, die kurz nach dem Pogrom vom 09.November 1938 tatsächlich von Göring, zu dem Flick bekanntlich engste Beziehungen unterhielt, erlassen wurde. Durch Lobbyismus arbeitete er damit aktiv auf eine Verschärfung bestehender Verordnungen hin (S.316). Mit Opportunismus und Mitläufertum hatte dieses Verhalten nun wirklich nichts mehr zu tun.

 

Als „entlastendes Argument“ wird immer wieder bemüht, dass sich andere Wirtschaftsgrößen seiner Zeit doch ähnlich verhalten hätten, man somit nichts Besonderes im Verhalten von Flick sehen könne. Schanetzkys Entgegnung pulverisiert dieses Scheinargument mit aller Deutlichkeit: „Zunächst bleibt es dabei, dass aus verbrecherischem Verhalten eine individuelle Schuld folgt, ganz gleich, ob sich viele andere ebenfalls verbrecherisch verhielten – erst recht, wenn man sich dieser Schuld schon früh bewusst gewesen ist, wie dies im Falle Flicks zu studieren ist.“ (S.381)

 

Die folgenden Zitate fassen die sehr eindeutigen Analysen von Schanetzky eindrücklich zusammen: „In diesem Sinne ging es ihm nicht nur um eine opportunistische Anerkennung oder Ausnutzung von Rahmenbedingungen, sondern auch um ihre aktive Mitgestaltung. So wie Flick von keiner staatlichen Stelle dazu aufgefordert worden war, lediglich das Minimum für das Überleben der Zwangsarbeiter zu unternehmen, war er auch nicht gezwungen, die Verschärfung von antisemitischen Verordnungen vorzuschlagen, den staatlichen Druck auf jüdische Konkurrenten zu verschärfen oder willkürliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit zu organisieren. Grenzüberschreitungen wie diese resultieren aus dem Expansionsdrang, und indem er so handelte, stabilisierte Flick zugleich den politisch-rassistischen Referenzrahmen des Nationalsozialismus, ja wurde selbst zum Teil des Systems. Das Beispiel der „Arisierungen“ unterstreicht nachdrücklich, dass Flick diese Grenzüberschreitung im klaren Bewusstsein ihrer Tragweite vollzog. (….) Aber der Fall Flick zeigt: Offenbar bedurfte es nicht nur eines politisch-gesellschaftlichen Systems, das den Verstoß gegen diese Standards ermöglichte, sondern auch einer bewussten Entscheidung, sich dieser Mittel zu bedienen.“ (S.325)

 

Der Wiederaufstieg Flicks nach dem 2. Weltkrieg macht deutlich, dass in der damaligen Bundesrepublik statt einer Entnazifizierung eine Renazifizierung stattgefunden hat, wie sie in kürzlich veröffentlichten Analysen deutlich geworden ist: „Dabei verrät die Leichtigkeit, mit der es Flick in den ersten beiden Dekaden nach seiner Haftentlassung gelang, politische Unterstützung für die Fortsetzung seiner Karriere zu mobilisieren, viel über das vergangenheitspolitische Klima der jungen Bundesrepublik.“ (S.368)

 

Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass durch diese Publikation endgültig die Legende des Mitläufers widerlegt ist. Wer die Mittäterschaft Friedrich Flicks in der Zeit des Nationalsozialismus weiterhin ablehnt, leugnet historische Fakten.